18.
September 1963:
Selbst eingefleischte Gegner des Fliegens müssen sich schon nach
wenigen Minuten davon überzeugen lassen, daß ihnen die IL 18
einen ruhigen und angenehmen Flug garantiert. Man empfindet
kaum, wie sich die Maschine von der Piste abhebt und bereits
nach wenigen Sekunden sicher ihre Bahn zieht, dabei zusehends an
Höhe gewinnend. Vielleicht ist es auch die nette Stewardess, die
sofort eine Atmosphäre des Zutrauens schafft und mit ihren
freundlichen Hinweisen eine etwa aufkommende Unbehaglichkeit
bekämpft. Man lehnt sich schließlich behaglich in seinen Sessel
zurück, riskiert noch einen Blick auf die wie Spielzeuge
erscheinenden Häuser und Bäume entlang der Chaussee tief unten
und läßt seinen Gedanken freien Lauf. Schon nach wenigen
Augenblicken ist vom riesigen Häusermeer des modernen Bukarests
nichts mehr zu sehen. Nochmals erinnert man sich an den
angenehmen Aufenthalt, der verbunden war mit einer
unvergleichlichen Gastfreundschaft. Nur die jungen Männer zu
unserer rechten Seite scheinen ein wenig mißmutig zu sein. Der
Eingeweihte findet dafür Verständnis, handelt es sich doch um
die Spieler des deutschen Meisters SC Motor Jena. Für sie hat
Bukarest trotz mannigfaltiger Eindrücke wenig Gutes gebracht.
Das erste Treffen im Europapokal der Meister sah Rumäniens
Titelträger Dinamo, die Mannschaft mit den vielen
Nationalspielern, mit 2:0 Toren erfolgreich. Es ist schon begreiflich, daß man da ein wenig die Köpfe hängenläßt
- wenn
auch nur vorübergehend.
Vielleicht überlegt Harald Fritzsche, ob er beim ersten
Gegentreffer nicht das Tor hätte verlassen müssen, um wenigstens
noch mit einer Faust an den Kopfball des nach vorn gelaufenen
Nunweiler lll heranzukommen. So vergeht einige Zeit, bis er auf
unser Gespräch eingeht.
„Was soll man da sagen? Unser Gegner war besser. Ich weiß, wir
können ihn auch im Rückspiel nur schwerlich schlagen. Da sind doch
wirklich ein paar Klasseleute dabei. Aber deshalb Mut und
Selbstvertrauen nehmen lassen? Wo gibt es denn das! Und
schließlich haben wir eine Verpflichtung in zweifacher Hinsicht:
nicht nur als Meister unser Bestes zu geben, auch wenn die
Situation gerade sehr ungünstig ist, sondern auch an unsere
großartigen Spiele im Europapokal der Pokalsieger anzuknüpfen,
die uns vor reichlich einem Jahr bis vor die Tür des Endspiels
gebracht haben. Das sind wir unseren Anhängern schuldig !"
Unmittelbar wird die Erinnerung an die großartige Serie der
Jenaer Elf in diesem Wettbewerb wach. Harald Fritzsche erinnert
sich noch an fast alle Details aus diesen Begegnungen. Namen wie Leixoes Porto, Swansea Town oder Atletico Madrid werden
unauslöschbar mit seiner fußballsportlichen Laufbahn verbunden
sein. Als wir den Jenaer Schlußmann an seine Begegnung mit
Madinabeyfia, dem Schlußmann der spanischen Elf, erinnern, ist
der Faden zu den Ereignissen der Jahre 1961/62 schnell geknüpft.
Wer ahnte damals, daß eine Fahrt unter ungewöhnlich schlechten
Vorzeichen der Auftakt für eine glanzvolle Serie unseres
Pokalsiegers sein würde...
Es steht fest: Die erste Begegnung mit Swansea Town findet
Montagabend unter Flutlicht in Linz statt! Immer wieder hat es
in den Absprachen zwischen dem SC Motor Jena und dem Waliser
Klub unfreiwillige Verzögerungen gegeben. Nein, man kann der
englischen Mannschaft und ihrer Leitung keinesfalls vorwerfen,
sie verschleppe eine genaue Festlegung der Termine bewußt. Im
Briefwechsel kommt deutlich zum Ausdruck, daß man
außerordentlich bedauere, sich der NATO-Weisung beugen zu
müssen, die die Einreise der DDR-Elf nach Swansea verhindere. So
einigt man sich acht Tage vor dem ersten Vergleich, auf
neutralem Platz in Linz zu spielen. Und zwar zu ungewöhnlich
später Stunde am Montag unter Tiefstrahlern.
Am Sonntag gegen dreiundzwanzig Uhr trifft das Jenaer Aufgebot
in Linz ein. Die österreichischen Journalisten lassen dem SC
Motor bis zum Spielbeginn keine Ruhe.
"Das wunderbar abgezirkelte Kombinationsspiel der Jenaer gab dem
Spiel das Gepräge", schreiben die österreichischen Zeitungen
tags darauf übereinstimmend. Davon erfahren die Jenaer Spieler,
die mit dem 2:2 eine gute Ausgangsposition für das schon am
Mittwoch stattfindende Rückspiel in Jena besitzen, jedoch nichts
mehr. Sie haben am Dienstag früh gegen fünf Uhr das Hotel
verlassen, weil sie spätestens am Nachmittag wieder in Jena
sein wollen. In Wien angekommen, geht es mit Taxen vom
Westbahnhof zum Franz-Joseph-Bahnhof, um den Anschluß nach Prag
zu sichern. Dort ist eine Chartermaschine bereitgestellt, die
Erfurt anfliegen soll. Bis in die Hauptstadt der CSSR verläuft
die Fahrt einwandfrei und in bester Stimmung. Lange und Roland
Ducke, die beiden Torschützen, sind die Helden des Tages. In
Prag steht die Sondermaschine verabredungsgemäß bereit - aber
sie kann Erfurt wegen dort herrschenden starken Seitenwindes
nicht anfliegen. So warten Spieler und Funktionäre nahezu eine
Stunde. Dann entschließt sich die Delegationsleitung zu einer
Kursänderung: Berlin wird angeflogen. Inzwischen unterrichtet
man die Daheimgebliebenen und bittet darum, sofort Pkw nach
Berlin zu schicken. Jede Minute ist kostbar, denn am Mittwoch
wird die zweite Begegnung ausgetragen ! Als die Mannschaft gegen
zweiundzwanzig Uhr Berlin erreicht, ist kein Auto zu sehen.
Jetzt kann nur noch ein Bus der Berliner Verkehrsbetriebe
helfen. Der erste und längste Teil der Strecke ist bereits
zurückgelegt, als in der Nähe der Bitterfelder Raststätte
plötzlich der rechte Hinterreifen platzt. Als es schließlich
nach einstündiger Unterbrechung weitergeht, bessert sich die
Laune aller zusehends, Todmüde fallen die Spieler nach zwei Uhr
in die Betten.
,,Da haben es die Engländer aber besser gehabt,
sie sind mit der Chartermaschine
gefahren", meint .Waldi Eglmeyer. Zu dieser Zeit ahnen Spieler
und Betreuer des SC Motor Jena jedoch noch nicht, daß es Swansea
ähnlich schlecht ergangen ist und die Voraussetzungen für das
Rückspiel heute Nachmittag gleichermaßen günstig oder ungünstig
sind: Die Engländer treffen sogar noch sechzig Minuten später als
der SC Motor in Jena ein! Zwölf Stunden später merkt man der
Aktiven jedoch nichts von einer quälenden Müdigkeit an.
Beiderseits atmet das Spiel eine begeisternde Frische und
Zielstrebigkeit. Doch zunächst sind die über 20 000 Zuschauer
schockiert. In der 8. Minute jagt Reynolds den Ball zum l :0 für
die Engländer in die Maschen!
Doch wer da glaubt, dieser Rückstand lahme das Spiel des SC
Motor, der wird eines Besseren belehrt! Unwiderstehlich zieht
vor allem der Jenaer Angriff seine Kreise, manövriert die
gegnerische Abwehr mit schnellen und direkten Paßfolgen aus und
erzwingt schon bis zur Pause einen 2:1-Vorsprung durch zwei
Treffer von Müller. Später haben die Engländer keine Chance
mehr, den entfesselten Gegner zu halten. Lange, Roland und Peter
Ducke gestalten das Ergebnis mit 5:1 eindeutig.
Die Expertenzahlreicher Länder kommentieren Jenas Leistung mit
außerordentlicher Hochachtung und nennen vor allem Peter Ducke, den jungen
Jenaer Mittelstürmer, immer wieder an hervorragender Stelle.
Sandor Bares, Präsident des ungarischen Fußball-Verbandes und
in dieser Eigenschaft offizieller UEFA-Beobachter, stellt fest:
„Es wäre eine Schande, hätte man diese ausgezeichnete Jenaer
Mannschaft aus dem Pokal Wettbewerb gestrichen, wie es ein Veto
englischer Stellen forderte. Doch die UEFA war sich ihrer
Verantwortung bewußt. Nun haben die Männer des SC Motor eine
große Chancel" Wer kann es ihnen verübeln, daß sie beim
abendlichen Zusammensein einen Schluck mehr zu sich nehmen, als
sonst üblich, und daß man dabei einmal ein Auge zudrückt. Nur
als Cliff Jones, der mit seinem Widersacher Georg Buschner, vom
Leipziger Treffen gegen Wales ein herzliches Wiedersehen feiert,
zu später Stunde noch zusätzliche Mittel für einen „Drink"
fordert, bleibt Trainer Trevor Morris unerschütterlich.
Unser Gesprächspartner Harald Fritzsche schmunzelt: „Ja, Cliff
Jones ist ein Mordskerl. Wir haben ihn wohl am meisten von allen
geschätzt. Doch halt, fast hätte ich da noch etwas vergessen.
Als wir auseinander gehen wollten, bat uns der Delegationsleiter
von Swansea, ihm doch noch für einige Augenblicke Gehör zu
schenken. Er sagte: ,lch glaube, Jena wird noch eine gute Rolle
in diesem Wettbewerb spielen. Vielleicht gewinnt es ihn
sogar, wer weiß. Sollte das gelingen, dann schicken wir eine
Chartermaschine nach Jena und lassen die Mannschaft zu mehreren
Freundschaftsspielen nach England kommen. Unser Wort!
" Nach
einer kurzen Unterbrechung kommt Harald Fritzsche auf den zweiten
Teil seiner interessanten Erzählung zurück. Sie beginnt für ihn
und einige
seiner Mannschaftskameraden vom SC Motor Jena eigenartigerweise
im fernen Casablanca...
Die Gebrüder Ducke und Harald Fritzsche befinden sich mit der
Nationalmannschaft in Marokko und treffen erst drei Tage vor
dem ersten Spiel mit Luxemburgs Meister Alliance Düdelingen
wieder in Jena ein, so daß die drei in der Vorbereitung des
Klubs nicht zur Verfügung standen. Aber soviel läßt sich ohne
Überheblichkeit sagen: Die Luxemburger zählen nicht zu den
Mannschaften, die der SC Motor ernsthaft zu fürchten hätte.
Schade nur, daß auch diesmal beide Vergleiche auf DDR-Gebiet
stattfinden müssen, weil der SC Motor keine Einreise zum
Rückspiel erhält.
Auf schneebedecktem Jenaer Boden haben die Männer von Alliance
nicht die Spur einer Chance. All ihre Bemühungen fallen gegen
diesen ehrgeizigen und spielerisch weiter gereiften Gegner auf
unfruchtbaren Boden. Schon der Auftakt mit Kirschs
Führungstreffer nach einer Minute ist vielversprechend. Mit der
Regelmäßigkeit eines Uhrwerks fallen die Tore. Lange (2),
Müller, Peter Ducke und wiederum Kirsch erhöhen auf 6:0. Zu
allem Überfluß lenkt der rechte Verteidiger Piccinini in der 72.
Minute den Ball noch ins eigene Tor. Mit diesem 7:0 hat sich
Jena für die nächste Runde qualifiziert, denken die Zuschauer.
Und das zu Recht. Daß sich der SC Motor von ähnlichen Gedanken
leiten läßt, halten die nur 1000 Besucher zwei Tage später in
Erfurt nicht für gerechtfertigt. So liegen die Gäste durch
Cirelli und Beflion mit 2:0 in Front, bevor der SC Motor
überhaupt richtig Fuß gefaßt hat! Als er sich endlich auf seine
spielerische Linie besinnt, schaffen Kirsch und Pefer Ducke
wenigstens noch ein 2:2. Für die Luxemburger ist dieses Ergebnis
Anlaß zu riesigen Luftsprüngen und Umarmungen noch auf dem
Spielfeld. Sie haben mit allem gerechnet - nur nicht mit diesem
Unentschieden!
Mit sichtlichem Wohlbehagen quittiert unser Partner das Vorhaben
der Stewardess, ihre Gäste mit einem reichhaltigen Mahl zu
bewirten. Harald Fritzsche langt tüchtig zu. Doch plötzlich
stockt er: „Eins muß ich noch erzählen : Als wir uns mit den
Luxemburgern über den Austragungsort des zweiten Spieles
einigten, standen eigentlich nur Saalfeld oder Gera zur Debatte.
Eigenartigerweise beharrten unsere Gäste darauf, im Erfurter
Georgi-Dimitroff-Stadion spielen zu können. Am Abend nach
dem Spiel, als wir in fröhlicher Runde beisammen saßen, erklärte
mir einer der Brüder Capitani den Zusammenhang : Irgendwie hatte
man erfahren, dass Jena in Erfurt als sogenannter
Thüringen-Rivale bei den Zuschauern stets einen schweren Stand
hatte. Man glaubte, der Unterstützung
der Erfurter Fußballanhänger sicher zu sein, wenn man hier
spielen würde. Das hat sich ja wohl denn auch bestätigt. Mich
würde nur interessieren, wer ihnen diesen Tipp gegeben hat. . ."
Die drückende Schwüle, die bei unserem Eintritt in der Maschine
herrschte, ist längst einer angenehmen Temperatur gewichen. Die
Stewardess reicht Harald Fritzsche den Flugzettel. „Noch
anderthalb Stunden Zeit bis Berlin l Also können wir uns in
aller Ruhe dem nächsten Gegner zuwenden: Leixoes Porto. Ich
glaube. an diese beiden .Schlachten' in Jena und Gera werden wir
uns alle noch lange erinnern . . ."
Bevor die portugiesische Vertretung in die Zeißstadt fährt,
sorgt sie bei ihrem kommenden Gegner noch für einige Unruhe. Sie
bezwingt den FC Zürich im zweiten Treffen der vorausgegangenen
Runde mit 5:OToren, und die Fachpresse des Landes ist voll des
Lobes über ihre ansteigende Form. Anschließend reisen die Männer
aus Leixoes nach Rumänien, wo sie gegen Progresul Bukarest eine
fabelhafte Leistung vollbringen und mit 1 :0 verdient gewinnen.
Sehr schnell bestätigt sich, daß sich die Vertretung aus Porto
ihrer Stärke bewußt ist, Und in der Tat: Leixoes kann auf eine
bemerkenswerte internationale Bilanz der vergangenen Jahre
blicken! Die Mannschaft erhielt das begehrte „Blaue Band", das
jenen Vertretungen verliehen wird, die im Ausland besonders gut
abschneiden. Leixoes brachte dabei das Kunststück fertig,
fünfzehn Vergleiche zu gewinnen. Und natürlich will sich die
Elf gerade jetzt nicht davon abbringen lassen, bis ins
Semifinale dieses Wettbewerbes vorzudringen. Man sieht die
portugiesischen Spieler kaum auf der Straße oder vor dem Hotel.
Trainer Munes liebt es nicht, daß sie vor einem schweren Kampf
übermäßig vielen Abwechslungen ausgesetzt sind. Sie sollen sich
auf das bevorstehende Spiel konzentrieren. Da sich schon in den
Morgenstunden die ersten wissbegierigen Buben mit ihren Autogrammhefte n einstellen, entscheidet Senior Munes schließlich
sogar, daß die Spieler das Frühstück auf ihren Zimmern einnehmen! Wie ernst es dem erfahrenen Trainer um den kommenden Kampf
ist, beweist folgende Begebenheit am Vormittag des Treffens: Mit
einer Schallplatte unter dem Arm erscheint Trainer Munes zur
Spielvorbereitung. Nachdem die Nationalhymne Portugals
verklungen ist und alle Spieler ehrfürchtig verharren, erklärt
er Ihnen: „Hört zu ! Die meisten von euch sind verlobt,
verheiratet oder haben feste Freundinnen. Alle diese Frauen und
Bräute schauen in diesen Stunden auf euch. Noch mehr: Ganz Porto
setzt sein Vertrauen in euch. Deshalb: enttäuscht das Vertrauen
nicht und denkt während der kommenden neunzig Minuten daran, mit
allen zur Verfügung stehenden Mitteln um ein gutes Resultat zu
kämpfen!" Das Wort ..Kampf" wird im ersten Treffen, besonders
aber im zweiten Vergleich in Gera, tatsächlich groß geschrieben,
Der SC Motor hat dabei den Nachteil, daß Mittelstürmer Peter
Ducke wegen einer Verletzung nicht eingesetzt werden kann. Die
neuformierte Angriffsreihe mit Roland Ducke, Müller, Kirsch,
Röhrer und Lange braucht einen beträchtlichen Anlauf, um endlich
die altgewohnte Form zu finden. Es gelingt in diesen neunzig
Minuten aber nur recht selten, so daß man am Schluß über ein 1:1
nicht hinauskommt. Die Portugiesen erzielen durch ihren
Mittelstürmer Oliveira Sekunden vor dem Pausenpflff das 1:0,
während Marx erst sechzig Sekunden vor Schluß egalisieren kann.
Aber wenn man berücksichtigt, daß dieses Remis gegen einen
Partner von internationaler Klasse erzwungen worden ist, dann
kann man den Kommentar von Trainer Georg Buschner nur
unterstützen: „Ich möchte meiner Mannschaft ein Gesamtlob
aussprechen. Es war eine kämpferische und dramatische Partie."
In der Schlußphase eines so imposanten Wettbewerbs muß man damit
rechnen, daß sich das Geschehen immer mehr zuspitzt und das
kämpferische Moment die Begegnungen prägt. Dessen sind sich die
Spieler des SC Motor bewußt, als sie in den zweiten Kampf gehen,
der in Gera ausgetragen wird. Es ist eine Partie mit unerhört
packenden Szenen und leider auch zahlreichen, nicht sehr
sauberen Auseinandersetzungen. Die Portugiesen reagieren
erstmals „sauer", als Kirsch in der 8. Minute das 1:0 für den SC
Motor herausholt. „Abseits" reklamieren sie mit aller
Eindringlichkeit und weichen dem Unparteiischen aus der CSSR
minutenlang nicht von der Seite. Erst als Kapitän Woitzat
längere Zeit beruhigend auf den Spielführer der Portugiesen
einwirkt, kann das Spiel fortgesetzt werden. Es bleibt aber auch
in der Folgezeit eine verbissene und beiderseits mit höchstem
körperlichem Einsatz geführte Partie!
Leixoes schlägt zurück und demonstriert über weite Strecken der
zweiten Hälfte einen erstklassigen Kombinationsfußball. Alle
Voraussagen über den Gegner bestätigen sich hier, zumal der SC
Motor nicht in der Lage ist, seinen Aktionen nach dem 1:0 die
notwendige innere Ruhe zu verleihen. Vieles läuft daneben. Aber
die beispielgebende Moral gleicht die Schwächen auf
spielerischem Gebiet aus. Als Lange schon hundertachtzig
Sekunden nach dem Ausgleich die hochwichtige Führung erzwingt,
läßt der Kampfgeist des Gegners spürbar nach. Schließlich stellt
Röhrer in der 78. Minute durch einen weiteren Treffer das
endgültige Resultat her.
Hat es im Verlauf dieser neunzig Minuten oftmals Anlaß dazu
gegeben, übermäßig harte Attacken einzelner portugiesischer
Spieler zu kritisieren, so erweisen sie sich nach dem
Schlußpfiff als gute Verlierer. Trainer Munes findet in dieser
für seine Elf gewiss nicht leichten Situation Worte der
Anerkennung für die gegnerische Leistung: ,,Der SC Motor hat
diesen Sieg verdient. Ich glaube aber, wir haben in Jena und
Gera angedeutet, daß wir guten Fußball spielen können. Ist uns
das gelungen, dann haben wir einen Teil unserer Mission
erfüllt." Wie sehr sich die Spieler unseres Pokalsiegers freuen,
nun im Semifinale zu stehen, läßt sich schwer beschreiben. Und
sie haben auch keinerlei Grund, sich jenen Standpunkt zu eigen
zu machen, der gerade jetzt von zahlreichen Fußballfreunden
vertreten wird: Ja, der SC Motor konnte ja beide Spiele zu Hause
austragen, das war für ihn schließlich der ausschlaggebende
Vorteil. Und: Hatte Leixoes im ersten Treffen in Jena nicht ein
1:1 erreicht? Mit diesem Resultat wäre die Elf zu Hause gewiß zu
einer für sie vorteilhaften Wende des Geschehens fähig gewesen!
Natürlich sind diese Überlegungen nicht mit einer Handbewegung
abzuweisen. Ein wenig hat der SC Motor schließlich davon
profitieren können. Aber kann man das ihm zum Vorwurf machen?
Seine Bemühungen, sich der Konkurrenz auch auf des Gegners Platz
zu stellen, sind schließlich einzig und allein durch die
sportfeindlichen Machenschaften der NATO auf Bonner Betreiben
hin vereitelt worden. Der SC Motor hätte sich nur allzu gern auch
in Lissabon, wo im Stadion von Benfica der zweite Vergleich
geplant war, einer erwartungsfrohen Zuschauerkulisse
präsentiert und ihr sein gestiegenes internationales Können
gezeigt. Professor Cultura Fisica Tecnico Football, Nelson E.
Filipo Munes, wie der volle Name des portugiesischen Trainers
lautet, findet die wohl beste Erklärung dafür, als er sich beim
abendlichen Bankett mit folgenden Worten von den Spielern des
Jenaer Klubs und ihren rührigen Funktionären verabschiedet:
„Leider, leider können wir Jena nicht zu Hause empfangen und uns
für die ausgezeichnete Gastfreundschaft revanchieren. Der
NATO-Beschluss trifft also in erster Linie uns! Wollen wir
hoffen, dass das bald vorbei ist und wir den SC Motor Jena in
Porto herzlich begrüßen können l"
Harald Fritzsche unterbricht seine Rede. Die Stewardess macht uns
darauf aufmerksam, daß wir in wenigen Augenblicken Budapest
überfliegen. Allmählich taucht das riesige Lichtermeer unter uns
auf. Harald Fritzsche deutet mit der Hand nach rechts, wo sich
das Band der Donau mit den vielen Laternen zur rechten und
linken Seite deutlich ausmachen läßt. „Nach dem Rückspiel gegen
die Rumänen wird das unsere nächste Aufgabe sein: gegen die
Ungarn im Europapokal der Länder!" Seine Gedanken eilen in
diesem Augenblick der Zeit schon weit voraus, kommen dann aber
auf die beiden Spiele gegen Leixoes zurück.
„Ich habe im zweiten Spiel manchmal furchtbar geflucht, wenn die
Abwehrspieler von Leixoes förmlich dazwischenhackten und unsere
Stürmer springen mußten, um nicht verletzt zu werden. Einmal
war ich sogar drauf und dran, dem mich umrennenden Gomez
Ohrfeigen anzubieten. Aber rasch hatte ich mich wieder in
der Gewalt. Um so mehr war ich überrascht, als Spielführer
Saniana nach dem Treffen zu „Sig" Woitzat ging, ihm den Arm um
die Schulter legte und in gebrochenem Deutsch zu ihm
sagte:, Alles Gute ! Ich glaube, ihr könnt es schaffen.' Das hat
mir mächtig imponiert und meinen Zorn schnell abklingen lassen.
Ja, trotz aller Leidenschaftlichkeit sind es doch prächtige
Burschen, diese Leixoes-Spielerl"
Allmählich rückt der Zeitpunkt heran, da man gegen die Müdigkeit
anzukämpfen beginnt. Die meisten Jenaer Spieler gönnen sich ein
wenig Ruhe nach den Strapazen des gestrigen Tages. Doch Harald
Fritzsche kommt jetzt erst richtig in sein Element. Uns wundert
das nicht, steht doch mit den beiden Semiflnal-Paarungen gegen
Atletico Madrid der sportliche Höhepunkt dieses für Jena so
ereignisreichen Wettbewerbes 1961/62 bevor...
Atletico Madrid: Gleichzusetzen in der Leistungsstärke nur zwei
anderen spanischen Vertretungen mit nicht minder bekannten
Namen; Real Madrid und CF Barcelona. Dieses Dreigestirn bildet
seit Jahren das Leistungszentrum im spanischen Fußball. Und die
Namen einiger Spieler im Klub Atletico haben über die Grenzen
des Landes hinaus Gewicht: Collar, der pfeilschnelle Linksaußen,
gemeinsam mit Gento, Spaniens Nummer 1 für diese Position, oder
Peiro, seinem Nebenmann auf halblinker Position. Man könnte
diese Aufzählung durch Calleja, den eisenharten und
stellungssicheren Verteidiger, den Läufer Ramiro und den
dunkelhäutigen Jones auf dem rechten Flügel erweitern. Sie alle
stellen internationale Klasse dar !
Schon vor dem Jenaer Spiel beeindrucken die Spanier. Alle
Spieler des SC Motor sind anwesend, als die Elf vierundzwanzig
Stunden vor dem Treffen trainiert. Bewundernswert die
hervorragende Disziplin. Vor allem aber haben die Jenaer Grund,
die Vielseitigkeit des Trainings auf gymnastischem Gebiet zu
bestaunen.
Ihre großartigen Fähigkeiten auf diesem Gebiet beweisen sie dann
nachdrücklich im ersten Treffen im April 1962. Noch niemals
zuvor hat das Ernst-Abbe-Stadion derart viele Menschen aufnehmen
müssen. Tausende haben sich zusätzlich auf der Aschenbahn
Sichtmöglichkeiten geschaffen, und in wirklich umsichtiger Art
und Weise hat es die Klubleitung möglich gemacht, daß 26 000
Besucher Platz finden. Und an diesem Tag vollzieht die Elf
endgültig den Sprung zur internationalen Klasse, obgleich sie
mit 0:1 die Bitternis einer Niederlage auskosten muß l
Doch was sie in diesen neunzig Minuten an technischer Vielfalt
und kämpferischem Aufbegehren leistet, ist höchsten Lobes wert.
Immer wieder sucht die Mannschaft ihre Chance durch steile Pässe
aus dem Mittelfeld heraus. Atleticos Abwehr und vor allem
Madinabeytia leisten ein unerhört großes Pensum. Und als Müller
in der 36. Minute zum SchuB kommt, scheint das verdiente 1: O für
den SC Motor fällig. Die Zuschauer haben schon den Torschrei auf
den Lippen, aber der Pfosten ist in diesem Augenblick Retter in
höchster Gefahr für Atletico. Die spanische Mannschaft
demonstriert alle Vorzüge eines eleganten, wirkungsvollen
Fußballs. Vor allem der zurückhängende Mendoza imponiert. Bei
ihm laufen die Fäden zusammen. Ihm gelingt auch die Vorarbeit
zum ausschlaggebenden 1:0. Collar, ein hervorragender
Linksaußen, hat keine Mühe, den raffiniert angeschnittenen Ball
über die Linie zu drücken. Dieses Tor in der 63. Minute
bedeutet Jenas Niederlage!
Noch einmal finden sich die Spieler beider Mannschaften zusammen,
beim abendlichen Bankett. In froher Stimmung verbringen sie
einige Stunden. Inzwischen haben sich Hunderte junger
Fußballanhänger vor dem Hotel „Schwarzer Bär" eingefunden und
hoffen, mit den spanischen Spielern zusammenzutreffen. Die
Delegationsleitung des Klubs erfährt davon. Einige Augenblicke
später erhebt sich Dr. Villalonga, der technische Leiter des
Klubs, und sagt folgendes: „Meine Spieler erklären sich
einverstanden, nach dem Abendbrot dreißig Minuten lang all den
wartenden jungen Burschen Autogramme zu geben !" Kurz darauf ist
der Saal einschließlich der Vorhalle natürlich dicht belagert.
Leider ist schon zu dieser Stunde gewiß, daß Atletico seiner
Rückspielverpflichtung nicht im heimischen „Estadio
Metropolitano" nachkommen kann. Dr. Villalonga erklärt dazu:,,
Sie dürfen das aufrichtige Bedauern des Klubs darüber zur
Kenntnis nehmen, daß uns diese Möglichkeit nicht gegeben ist. Es
lag leider außerhalb unserer Machtbefugnisse, darüber zu
entscheiden. Wir bedauern das außerordentlich l"
Als der SC Motor aber zum fälligen zweiten Treffen im neutralen
Malmö eintrifft, glaubt er sich tatsächlich in der Obhut des
spanischen Gastgebers. Bei der Ankunft auf dem Bahnhof steht
die Delegationsleitung des spanischen Klubs bereits zur
Begrüßung bereit und empfängt die Spieler und Funktionäre des SC
Motor wie gute alte Freunde. Und ein weiteres interessantes
Zusammentreffen ergibt sich während dieses Aufenthalts auf
schwedischem Boden: UEFA-Präsident Ebbe Schwartz begrüßt beide
Vertretungen und äußert sein Bedauern über den regelwidrigen
Ablauf dieser Spiele:
,,Es ist tatsächlich ungewöhnlich, daß Atletico seine Pflichten
als Gastgeber zweitausend Kilometer von der eigenen Heimat
entfernt wahrnehmen muß. Die UEFA hat alles Mögliche getan, um
die europäischen Pokalwettbewerbe trotz dieser Maßnahmen
ordentlich durchzuführen. Ich weiß, Sie hätten lieber in Madrid
gespielt, aber das liegt leider nicht im Bereich unserer
Kompetenz. Wir Sportler wären uns einig geworden. Die Spanier
erzählten mir, wie gut es ihnen in Jena gefallen habe. So soll
es auch hier und überall sein !"
Die freundschaftliche Aufnahme hilft dem SC Motor auch ein
wenig, die klare 0:4-Niederlage im entscheidenden zweiten Gang
zu verdauen. Die ungewohnten Flutlichtverhältnisse bilden das
erste Hemmnis, zumal die Spanier unter derartigen
Voraussetzungen ihre meisten Kämpfe austragen. Doch das allein
wird dem SC Motor nicht zum Verhängnis. Seine Unsicherheiten in
der Deckungsreihe geben Atletico die Möglichkeit, in der 14.
und 17. Minute durch Mendoza und Jenes mit 2:0 in Front zu
ziehen. Damit sind nach dem 1:0d er Spanier in Jena bereits die
Würfel gefallen. Die Jenaer vermögen sich später zwar
beträchtlich zu steigern und ihren Aktionen wiederum einen
begeisternden kämpferischen Rückhalt zu verleihen, aber
aufzuhalten ist die reibungslos funktionierende Kombinationsmaschine des Gegners nun nicht mehr. Er fühlt sich
seines Sieges sicher und spielt unbeschwert auf. Jones und
Mendoza stellen innerhalb von wenigen Minuten das klare 4:0 her.
Dennoch bleiben die Namen von Fritzsche, Otto, Stricksner,
Ahnert, Woitzat, Eglmeyer, R. Ducke, Müller, P. Ducke, Lange und
Kirsch auch nach der Niederlage von Malmö anerkennend in aller
Munde. Immerhin haben sie an die Pforte zum Eintritt ins Finale
geklopft.
Wir haben im angeregten Gespräch kaum gespürt, daß die Maschine
schon beträchtlich an Höhe verloren hat. Prag liegt hinter uns.
Harald Fritzsche merkt man ein wenig die innere Erregung an -
wie begreiflich. „Ja, es ist schwer, dicht vor dem Ziel
abgefangen zu werden und dann doch Herr seiner Nerven zu
bleiben. Auch mir ist das schwergefallen. Aber Madinabeytia hat
mir rasch über die Enttäuschung hinweggeholfen. Schon in Jena
wurden wir gute Freunde, und er verabschiedete sich von mir im
Gefühl aufrichtiger Freude darüber, daß wir uns in knapp
vierzehn Tagen in Malmö wiedertreffen würden. In Schweden haben
wir uns mehrfach gesehen. Schade nur, daß man sich so schlecht
miteinander verständigen kann. Ich glaube, wir hätten sonst
gemeinsam noch manche Stunde mehr verbracht. Nach dem Spiel war
er der erste, der mir um den Hals fiel. Nicht allein aus Freude
über den Sieg seiner Mannschaft. Nein. ,Nimm es nicht so
tragisch', meint er. ,Das ist eben nun einmal der Sport. Ich
bin sicher, ihr werdet eines Tages noch einmal von euch hören
lassen. Vielleicht treffen wir uns einmal wieder - ich
jedenfalls würde mich sehr darüber freuen l' " Das dumpfe
Zittern der schweren Maschine ist untrüglicher Beweis dafür, daß
wir bereits wieder festen Boden unter den Füßen haben. In
Sekundenschnelle verringert die IL18 ihre Geschwindigkeit. Ein
Blick hinaus faßt uns die neu erbauten Hallen des Berliner
Flughafens Schönefeld erkennen. Unser angeregtes Gespräch hat
die nahezu zwei Flugstunden so rasch vergehen lassen, daß noch
diese und jene Frage ungeklärt bleibt. Harald Fritzsche und
seine Mannschaftskameraden vom SC Motor Jena haben noch eine
mehrstündige Busreise vor sich, bevor sie wieder
bei ihren Familien angelangt sind. Doch schon jetzt drängt die
Zeit: In wenigen Tagen Kommt Rumäniens Landesmeister zum
Rückspiel. Für Jena ein schweres Vorhaben, gegen ihn zu
bestehen. Es kann nur gelingen, wenn der Elf jene hervorragende
Übereinstimmung zwischen spielerischen und willensmäßigen
Qualitäten gelingt, die im Europapokal der Pokalsieger das
Vordringen bis in die Runde der letzten Vier ermöglichten. Fast
scheint es, a!s habe unser Nationaltorhüter diesen Gedanken
erraten, Sein Schmunzeln läßt
jedenfalls darauf schließen ...
|